Bericht von Teilnehmer Tobias Siegl
Es ist dunkel und sternenklar, weniger kalt als erwartet und in der Ferne zeichnet sich noch schwach die Silhouette des Elbrus ab. Ich liege, endlich, und versuche zu schlafen. War ich wirklich 21 Stunden auf den Beinen ? War ich vor 12 Stunden wirklich auf dem Westgipfel des Elbrus ?
Rückblick.
Am 26. April 2014 besteige ich um 23 Uhr die Aeroflot Maschine in München um über Moskau nach Mineralnye Vody zu fliegen. Mit an Bord Hannes, Kurt und Wolfgang, meine Mitstreiter für die nächsten 11 Tage, die ich zu diesem Zeitpunkt allerding noch nicht kenne.
Um 11 Uhr am nächsten Morgen komme ich in einer anderen Welt an – Erinnerungen an Bilder der DDR leben auf. Mineralnye Vody. Ein Hot Spot für Bergtouristen. Wir treffen Alexis, packen unsere Sachen in einen Kleinbus und treten die 3.5 Stunden Reise durch das Baksan Tal nach Azau an. Auf der Fahrt das immer gleiche Bild – alte, triste Bauten, vereint zu Siedlungen und Städten. Faszinierend Alexis zu lauschen der mit Liebe und Hingabe sein Land und die Geschichte zu erzählen weis – und – uns das Quellwasser der Region buchstäblich schmackhaft macht.
Um 15 Uhr passieren wir Terskol, die letzte grosse Bastion bevor wir nach Azau kommen. Wir befinden uns bereits auf 2350 Metern ü.n.N. allerdings liegt erschreckenderweise kein Schnee, was nicht dazu beiträgt das Vorörtchen des Elbrus schöner wirken zu lassen. Ein extrem schneearmer Winter sagt mir Alexis – dieser Fluch begleitet mich von den Alpen bis in den Kaukasus in diesem Winter 2013/2014. Akklimatisierungstouren auf verschiedene grandiose Berge in dieser Region werden deshalb gnadenlos gestrichen – wir werden uns die nächsten 10 Tage darauf beschränken die Südflanke des Elbrus bis in den 4500 Meter Bereich Stück für Stück, Tour für Tour zu erklimmen.
Der erste Morgen ist sonnig, die Auffahrt zur Mir in der alten Gondel ein Erlebnis für sich aber technisch besser nicht näher zu analysieren, die Felle der Skier erfreuen sich des ersten Kontakts mit kaukasischem Schnee, die beiden Gipfel des Elbrus leuchten weiss vor blauem Himmel und erinnern mich schmunzelnd an die weibliche Anatomie, und wir erreichen sehr bald schon die Botschkis, das Tonnenlager auf 3700 Metern. Surreal, faszinierend wenn auch nicht schön, und es geht zu wie auf dem Jahrmarkt. Wir lassen es locker angehen, wir sind nur hier um uns zu akklimatisieren, und gehen weiter Richtung Prijut Hütte. Schlagartig zieht es zu, es beginnt zu schneien, der Schnee kommt schon bald nur noch horizontal daher, ein Phänomen das sich die nächsten Tage immer und immer wiederholen wird mit der Tendenz zum Extremeren.
Wie den ersten Tag verbringen wir die nächsten, das Wetter hindert uns allerdings daran höher als 4300 Meter zu steigen. Wir erkunden die Südflanke und kennen den Weg bald schon in und auswendig, lernen aber auch mit den Wetterextremen am Berg umzugehen. Ab- oder anfellen im Schneesturm, von wärmender Sonne zu vereisten Nasen innerhalb 45 Minuten, Balance halten in völligem White-Out, Abfahrten bei null Sicht. Aber wir geniessen jeden Tag und ziehen am 1. Mai um auf die Botschki’s und hoffen täglich auf stabileres Wetter um die Gipfelbesteigung planbar zu machen. Doch das Wetter am Elbrus macht was es will – nicht was wir wollen. Ein Highlight an jedem Tag ist Sasha mit Ihrem Mann Wladimir die uns mit Köstlichkeiten aufpeppen und gipfeltauglich mästen. Wladimir kann auch ein Kräuterdoktor sein – wie er eindrucksvoll bewiesen hat. Das hat Wolfgang bei stürmischer Nacht den mehrmaligen Gang auf die Aussentoilette erspart.
6. Tag, die Sonne wirft das Tonnenlager in strahlend-glitzerndes Morgenlicht, heute wollen wir hoch auf 5000 Meter, über die Pastuchov Felsen hinaus und legen früh los und werden früh durch starken Wind und Schneegetöse gestoppt, leider schon bei 4600 Meter, aber der Aufstieg hat gezeigt auf was wir uns eigentlich einlassen. Die Flanke ist ab 4500 Meter stark vereist, mit Skiern zu gehen ist ausgeschlossen, es wird ein Aufstieg mit Steigeisen, und das für die verbleibenden elfhundert Höhenmeter.
Der Wetterbericht macht uns Hoffnung für genau einen Tag, und dieser Tag ist auch gleichzeitig unsere letzte Chance wenn wir den Elbrus überschreiten wollen. Und das wollen wir, genauso wie wir ohne Ratrac hoch und ausschliesslich auf den Westgipfel wollen, wir wollen so viel aber Alexis bremst uns ein. Die Stimmung kommt in einen Bereich wo sie schnell kippen könnte, das Wetter tut sein nötiges dazu und wir beschliessen einen Ruhetag einzulegen um Kräfte zu sammeln und uns für einen möglichen Aufstieg zu wappnen. Der Ruhetag findet im Container statt, es stürmt und schneit aber der Wetterbericht hält was er verspricht, die Abendstunden werden ruhiger und die Sonne zeigt uns stimmungsvoll wie sie untergeht. Wir bereiten uns vor, mental wie physisch, der nächste Tag wird es sein, der nächste Tag muss es sein …
Und der nächste Tag beginnt um 0130 Uhr morgens, ich habe gefühlte 20 Minuten geschlafen, tatsächlich vielleicht 2 Stunden, der Gang zur Toilette beweist dass das Wetter soweit stabil ist, die Sterne funkeln und es ist kalt, sau kalt. In Trance wird gepackt, gefrühstückt, der raumschiff-ähnliche Ratrac ist da und beamt uns um 0230 Uhr bis an die 4500 Meter Marke – die unteren Pastuchov Felsen. Auffellen ? Nein – Steigeisen an, die Skier auf das so schon schwere Überschreitungsgepäck und pünktlich steigen wir wie geplant um 0315 Uhr los. Wir sind die ersten in dieser Höhe, Stolz kommt nicht auf weil wir mit dem Raumschiff angeflogen kamen, der Blick zurück zeigt aber dass heute DER Tag für den Gipfelsturm ist und wir nicht die einzigen Weltraumtouristen am Elbrus sind. Langsam geht es nach oben, zu langsam für meinen Geschmack, für langsam bin ich zu leicht gekleidet. Ich warte auf die Sonne, doch die zeigt sich aktuell nur als schwacher Lichtstreif hinter meinem Rücken. Der Blick über den erwachenden Kaukasus ist atemberaubend, Lichterketten aus Stirnlampen ziehen die Südflanke des Elbrus herauf – ich habe so etwas noch nicht zuvor gesehen, und die Aussicht wird besser von Minute zu Minute, denn der Tag bricht langsam heran und die Sicht wird klarer. Es ist kalt, das langsame gehen macht mir zu schaffen, mir wird es zu kalt, ich schätze um die minus 30 Grad bei leichtem Wind. Zu spät beschliesse ich mir eine weitere Jacke anzuziehen, ein kurzer Blick auf meine nackte Hand zeigt eine schneeweisse Fingerkuppe am rechten Ringfinger. Erste Erfrierungserscheinung. Die Sorge um mein rechtes Bein das ich seit ca. einer Stunde vor Kälte kaum mehr spüre wird grösser, ich muss schneller gehen und mit Hannes finde ich meinen Wing-Man der mit mir aus der Gruppe ausreisst um schneller die Querung zum Sattel zu gehen. Die Sonne will und will mich nicht erreichen und wärmen, ich hoffe auf den Sattel. Mein rechtes Bein knickt weg und eine Eisplatte bohrt sich in mein Knie als ich mit vollem Körper- und Rucksackgewicht hangseitig umfalle. Als ich liege fährt mir der stechende Schmerz ins Bein welchen ich aber durch die fast-Taubheit gut kompensieren kann. Ich bin froh dass es nicht das linke Bein war das eingeknickt ist, links ginge es ca. 1000 HM steil abwärts, ein Halten auf der vereisten Flanke wäre kaum möglich. Hannes treibt mich an, bald erreichen wir den Sattel der jedoch noch ohne Sonne ist. Die Aussicht ist umwerfend und die tatsächliche Dimension des Sattels wird einem hier oben erst richtig bewusst, das hat mit der Anatomie einer Frau nicht mehr viel zu tun …
Mein ganzer Körper zittert mittlerweile, ich kann mich nicht erinnern je so eine innere Kälte gespürt zu haben, ich muss sofort weiter, die oberen zwei Drittel des Westgipfel liegen voll in der Sonne, die ist jetzt das Ziel. Ich lege meinen Rucksack ab, schnappe mir den Pickel und gehe los, steigen und weiter steigen, ein kurzer Blick zurück in den Sattel – unglaublich – dann weiter steigen. Ich sehe dass sich auch Hannes und Kurt auf den Weg gemacht haben. Ich erreiche die Sonne, endlich, und ich falle kurz auf die Knie, muss kurz rasten. Der Rest der Gruppe kommt im Gänsemarsch das letzte Stück der Querung herauf, auch sie werden bald im Sattel sein. In der Sonne sitzen allein reicht nicht, ich muss mich weiter bewegen. Hannes, Kurt und ich machen uns gemeinsam auf den Weg zum Gipfel, steigen die letzten 200 HM gemeinsam auf, Schritt um Schritt dem Gipfel entgegen.
Es ist 0905 Uhr am 4. Mai 2014. An diesem sonnigen und windstillen Morgen mit einer nur schwer zu beschreibenden Fernsicht stehen wir mit Tränen in den Augen auf dem 5642 Meter hohen Dach Europas, dem Westgipfel des Elbrus. Wir liegen uns in den Armen, klopfen uns auf die Schulter und schütteln uns die Hände, versuchen in 20 Minuten so viele Eindrücke aufzusaugen wie nur möglich bevor wir wieder absteigen. Der Rest unserer Gruppe kommt uns auf halber Strecke hinab zum Sattel entgegen und ca. zwei Stunden später sind wir dort wieder alle glücklich vereint und nach dem erfolgreichen Gipfelsturm zum Abstieg auf der Nordseite bereit. Diese uns bis dato unbekannte Seite des Elbrus fordert nochmal alles an Konzentration von uns, mächtige und teils versteckte Gletscherspalten, anspruchsvolle Querungen und völlig vereiste Flanken von ungeahntem Ausmass zehren an den verbliebenen Kräften dieses Tages. Unterstützt von plötzlich aus dem Nichts auftauchenden, sarazenenhaft wirkenden Kaukasen erreichen wir schon bald gemässigtere Höhen, verwerfen die Idee der geplanten Übernachtung in einer nicht gemütlich anmutenden Biwak Schachtel und beschliessen um 1500 Uhr nach kurzer Rast den direkten Abstieg bis nach Dgily-Su, welcher nochmals 4 Stunden in Anspruch nehmen wird. Bei den Pilzfelsen auf 3200 Metern ist endgültig Schluss mit Schnee und ab jetzt heisst es gehen. Die Skier werden ein letztes Mal abgeschnallt und wir treten eine 3.5 Stunden Wanderung durch kaukasisches Hochland an. Wohl dem, der gute und leichte Tourenskischuhe mit guter Gehfunktion hat. Vorbei an der Emanuel Wiese immer weiter hinunter bis nach Dgily-Su das auf ca. 2500 Metern inmitten einer bergigen Landschaft im absoluten Nichts liegt.
Gegen 2100 Uhr verlasse ich meine Skischuhe endgültig, meine dampfenden und schmerzenden Füsse danken es mir, ich richte mein Nachtlager her, das Camp ist russisch-rustikal und eine Klasse für sich, das Essen mit Hingabe gemacht und der Wodka warm so dass sich der wahre Geschmack richtig entfalten kann. Es ist dunkel und sternenklar, weniger kalt als erwartet und in der Ferne zeichnet sich noch schwach die Silhouette des Elbrus ab. Ich liege, endlich und versuche zu schlafen.
Der nächste Tag bringt uns nach Pjatigorsk, der übernächste vorläufig nach Moskau mit Kurzbesuch des Roten Platz bevor es letztendlich zurück nach München geht.
Mein Dank an Alexis und Iris für die Organisation, Sasha mit Wladimir für die vorzügliche Verköstigung und liebevolle Unterstützung am Berg und natürlich meinen Mitstreitern Hannes, Kurt und Wolfgang für alles das was sie mir – bewusst oder unbewusst – für meinen weiteren Lebensweg mitgegeben haben.
Tobias Siegl