Erstbesteigung geglückt
Deutsche Mitglieder des Alpenvereins erklimmen den Gipfel eines namenlosen Fünftausenders im Tien Shan Gebirge und nennen ihn „Alexander von Humboldt“:
Diesen Namen funkt der Expeditionsleiter Alexis Passalidis zum Basislager und bestätigt damit die gelungene Erstbesteigung. „Tolles Panorama, herrlicher Aufstieg, schöner Berg“, atemlos, aber stolz und zufrieden lächeln die fünf Bergsteiger in die Kamera.
Sie können es noch gar nicht fassen, dass dieses Abenteuer gelungen ist. Der Nordgrat des Berges im Tien-Shan Gebirge an der Grenze zwischen Kirgistan und China schimmert strahlend weiß in der Sonne. Nach zwei Anläufen war der Gipfelsturm erfolgreich. Der 5020 Meter hohe Berg trägt jetzt den Namen „Alexander von Humboldt.“ Erinnert wird damit an den Forscher, Geographen und deutschen Wissenschaftler, der sich schon im 19. Jahrhundert für die Bergwelt an der Grenze zu China interessiert hatte. Der Schwierigkeitsgrad lag bei 5A nach der russischen Skala, das entspricht DT nach westeuropäischer Klassifizierung. Die Eisneigung betrug durchgehend 50 Grad, stellenweise sogar 80 Grad. „Steiler als ich dachte,“ meint Matze anerkennend, als er oben angekommen ist.
Passalidis hatte diesen Berg ausgesucht, nachdem er im letzten Jahr den Chan-Tengri bestiegen hatte und von der Schönheit des Gebirgsprofils im Tien-Shan überwältigt war. Bei der Berliner Sektion des Deutschen Alpenvereins warb er um interessierte Bergsteiger und schlug ihnen vor, eine Erstbesteigung eines namenlosen Gipfels zu versuchen. Die Begeisterung war groß. Trägt doch jeder Mensch in sich den Wunsch, einmal etwas ganz Besonderes zu schaffen. Für Bergsteiger ist dies die Erstbesteigung eines Gipfels, auf dem nie zuvor ein Mensch gestanden hat. Ob dieser Traum Wirklichkeit werden sollte?
Zuvor galt es, kartografisches Material zu besorgen, Kurse im Eisklettern und für die Spaltenbergung zu absolvieren, um ein größtmögliches Maß an Sicherheit zu bekommen. Vier Interessenten blieben übrig, die sich das Wagnis zutrauten. Kurz vor dem Abflug aus Deutschland machte plötzlich ein Gerücht die Runde: der ausgesuchte Berg ist schon längst bestiegen. Ratlosigkeit, Ärger und Enttäuschung bei den Expeditionsteilnehmern. Recherchen bei den kirgisischen Behörden ergaben keine Bestätigung. Mit gemischten Gefühlen brachen Guenter Meier, selbständiger Diplomingenieur aus Potsdam, Rene Meier, Oberleutnant der Bundeswehr aus Gablenz, Mathias Hascher vom Bergsportausrüster Camp4 in Berlin und Jürgen Pawlitzki, Richter am Landgericht aus Berlin Charlottenburg Richtung Bishkek auf. Sie hatten beschlossen, vor Ort zu entscheiden, ob sie einen anderen Berg besteigen, den Passalidis mit seinem kirgisischen Partner ausgesucht hatte, oder bei der ersten Wahl bleiben würden.
Zusammen mit Alexis und Oleg, dem russischen Bergsteiger, studierten die Expeditionsteilnehmer die Karten. Auch ihm war nichts davon bekannt, dass der Berg im westlichen Tien-Shan bereits erklommen wäre: „Ich glaube nicht, dass der Berg bereits bestiegen ist,“ so der stellvertretende Vorsitzender der Föderation der Bergsteiger des Kirgistans Alexander Gubaev.
„Keiner der Bergsteiger, die qualifiziert wären, um einen solchen Berg zu besteigen, weiß etwas davon. Wenn jemand oben gewesen wäre, hätten wir davon erfahren.“
Die Bergsteiger haben ihre Entscheidung gefällt. Sie bleiben bei der ersten Wahl. Der Berg ist gut zu erreichen und eine echte bergsteigerische Herausforderung.
Die Rucksäcke zu packen, ist eine Kunst. Circa 25 Kilo pro Mann sind veranschlagt. Aber vorher entdecken die bergsportbegeisterten Deutschen noch die Faszination des Bazars, der sich mit seinem munteren Treiben und leckeren Spezialitäten als Fundgrube für exotische Gewürze, schmackhafte Melonen und andere Leckereien erweist. Natürlich darf ein Schluck Shoro nicht fehlen. Das kirgisisichen Nationalgetränk aus gemahlenem Getreide und Sauermilch gibt Kraft und erfrischt.
Nach dem der Kleinbus beladen ist, geht die Fahrt Richtung Inyltschek-Tal. Die Landschaft ist abwechslungsreich. Für Naturliebhaber erstreckt sich der Kilometer lange und breite Issykkul See und lädt eigentlich zu einem Bad ein. Er gilt als zweitgrößte (nach Tiitkaka See in Südamerika) Hochgebirgssee der Welt. Bei den kleinen Stops treffen die Bergsteiger auf die einheimische Bevölkerung, die hofft, noch ein paar gute Geschäfte zu machen, denn hier ist die Saison bereits zu Ende. Ziel der heutigen Tagesetappe ist das Camp At-Djailoo. Für bergsteigerische Ansprüche herrscht hier Luxus pur. Kleine Häuser schmiegen sich in das liebliche Tal oberhalb eines kleinen Sees. Tatjana, die Wirtin, weiß, was ihre Gäste schätzen. Frisches Fleisch und Eier liefern Hühner und Puten, Milchprodukte eigene Kühe. Höhepunkt ist ein Besuch im russischen Damfbad. Für Strom sorgt ein Windgenerator. Weht einmal kein Lüftchen, dann springt der Dieselgenerator ein.
Nach einer erholsamen Nacht auf 2800 Metern Höhe soll die Akklimatisierung beginnen. Das ist das A und O einer erfolgreichen Expedition. Damit wird der gesamte Organismus nach und nach auf die Höhe eingestellt. Es soll mit der ganzen Mannschaft auf 4000 Meter Höhe gehen. Von dieser Seite kann die mögliche Gipfelroute schon einmal aus der Ferne in Augenschein genommen werden. Leider hat die Gruppe kein Glück. Spielte anfänglich das Wetter noch prima mit, zieht es sich während des Anstiegs zu und die Sicht wird durch Schnee und Nebel versperrt.
War hier noch so etwas wie Zivilisation, geht es am nächsten Tag in unbekanntes Terrain. Ein reißender Bergbach versperrt den Weg. Gut, dass es hier noch Pferde für das schwere Gepäck gibt, die zwar etwas widerwillig, dann aber doch sicheren Trittes durch das Flüßchen stapfen. Die Mannschaft behält trockene Füße, denn sie kann eine Schneebrücke über das Wasser nutzen. Der Marsch geht heute bis auf 3500 Meter. Am Fuß des unbekannten Bergriesen in Ufernähe zu einem klaren Bergsee wird das Basislager aufgeschlagen. Ab jetzt ist das Team auf sich allein gestellt.
Dann beginnt die Aufklärungsarbeit für Festlegung der Route. Es gibt wenig, auf das sich die Bergsteiger stützen können. Sie müssen sich auf ihre Erfahrung und die Einschätzung, die sie anhand des Geländes gewinnen, verlassen. Nach einigem Abwägen stellen sie fest, das der Zustieg von Nordwest ausscheidet. Ein stark zerrissener Gletscher versperrt den Weg. Es ist wegen der uneinsehbaren Gletscherspalten viel zu gefährlich. Von der Nordostseite sieht es besser aus. Die Expeditionsteilnehmer können über einen Hängegletscher bis zum Sattel aufsteigen und dann über den Nordgrat bis zum Gipfel gelangen. Die Planung sieht vor, dass Matze und Hans-Jürgen mit einem Teil der Ausrüstung unten bleiben und die anderen zu fünft mit dem Kameramann Juri bis zum Sattel aufsteigen. So können Matze und Hans-Jürgen den Aufstieg von unten beobachten und gegebenenfalls Hilfe holen.
Früh machen sich Alexej, Oleg, Günter und Rene und Juri auf den Weg. Das besondere Ereignis soll filmisch begleitet werden. Beim Durchqueren der Mulde kommt es plötzlich zum Steinschlag. Fußballgroße Brocken poltern den Hang hinunter. Ein Ausweichen ist nicht möglich. Alle gehen am Seil. Alexis wird am Oberarm getroffen. Das riecht nach dickem Bluterguß. Die Teamkameraden lassen sich nicht entmutigen und steigen wie geplant zum Sattel auf 4500 Meter hoch. Auf einer schmalen Bank werden die Zelte aufgeschlagen.
Am nächsten Tag lockt der Gipfelsturm. Der Nordgrat hat es in sich und steiler als erwartet. Aus Sicherheitsgründen gehen auch heute alle angeseilt. Das kostet aber auch mehr Zeit, als gedacht. Am frühen Nachmittag sind es noch 180 Meter bis zum Gipfel. Vor Einruch der Dunkelheit ist ein sicherer Abstieg nicht mehr zu schaffen. Also fangen die Bergsteiger an, sich abzuseilen.
Über Funk nehmen sie Kontakt zu Matze und Hans-Jürgen auf. Einvernehmlich haben sie entschieden, dass die beiden zu ihnen stoßen und gemeinsam beschlossen wird, wie der Gipfelsturm zu bewältigen ist. Das verschafft den anderen einen Ruhetag, denn in dieser Höhe geht jede Anstrengung an die Substanz.
Matze und Hans Jürgen sind einverstanden. Sie sollen noch die restlichen Lebensmittel mitbringen, denn die Vorräte werden langsam knapp. Auch sie haben Probleme mit dem Anstieg, daher steigen Alexej und Oleg ihnen entgegen und können einen Teil des Gepäcks übernehmen. Erleichterung bei allen, als das Team endlich wieder zusammen ist.
Bei herrlichem Wetter wird die Gipfelstrategie diskutiert. Matze zweifelt, ob es gelingt, dass alle zusammen am nächsten Tag aufsteigen, wo doch mit fünfen die Zeit schon zu knapp war. Also soll es einen weiteren Erholungstag geben, der dazu dienen soll, soweit wie möglich Fixseile parallel der Gipfelroute zu befestigen. Das spart Zeit und Kraft. So hoffen die Gipfelstürmer, dass sie gemeinsam zum Ziel kommen.
Frühmorgens wird in den Zelten alles für den entscheidenden Aufstieg vorbereitet. Mit Stirnlampe und noch bei Dunkelheit macht sich die Gruppe auf den Weg. Die Fixseile leisten gute Dienste. Bis es hell wurde ist es schon gute zweihundert Höhenmeter zum Gipfel näher. Dann geht es angeseilt weiter. Um ein Uhr Mittags funkt Alexis nach unten: „Wir haben alle den Gipfel erreicht, sind wohlauf und taufen den Berg auf den Namen Alexander von Humboldt.“ Etwas unterhalb der Gipfelspitze wird eine Gipfelpyramide errichtet. Hier wehen ab sofort die deutschen Nationalfarben. Im Gipfelbuch werden die Namen der erfolgreichen Mannschaftsteilnehmer vermerkt. Außerdem ist noch Platz für ein Foto von Dirk Krause, der eigentlich auch an der Expedition teilnehmen wollte, aber im Winter plötzlich verstarb.
„Juchuuh“, stolz, froh und noch etwas außer Atem machen sich die erfolgreichen Bergsteiger Luft und klopfen sich gegenseitig auf die Schulter. Im Hintergrund erhebt sich der majestätische Chan Tengri mit seiner charakteristischen Form und grüßt die zufriedenen Gipfelstürmer. Die Erstbesteigung ist ein voller Erfolg. Aber hier warten noch viele namenlose Gipfel darauf, auch einen Namen zu bekommen.